Wann
Montag - 11.12.2017
20:30 - 23:30
Wo
The Lovelace
Kardinal-Faulhaber-Straße 1
München
Kann die digitale Technik zum Fundament einer neuen Sozialutopie werden?
Zum mittlerweile bereits vierten Telepolis-Salon am 11. Dezember in der Bar im Lovelace haben wir uns ein vielleicht exotisches Thema ausgedacht, das aber zum hundertjährigen Jubiläum der Oktoberrevolution und dem Beginn bzw. dem Versuch einer mit der kapitalistischen Marktwirtschaft konkurrierenden Planwirtschaft passt: Planwirtschaft 2.0. Schafft sich der Kapitalismus mit der digitalen Technik selbst ab?
Prof. Dr. Klaus Mainzer ist Gründungsdirektor des Munich Center for Technology in Society (MCTS) und arbeitet als Wissenschaftsphilosoph über Grundlagen und Zukunftsperspektiven von Wissenschaft und Technik. Im Zentrum stehen dabei mathematische Grundlagenforschung und Computermodellierung von Wissenschaft und Technik. Zuletzt hat er die Bücher veröffentlicht: „Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data“. München, 2014; „Leben als Maschine? Von der Systembiologie zu Robotik und Künstlicher Intelligenz“. Paderborn: 2010.
Simon Schaupp vom Munich Center for Technology in Society (MCTS), der über den „kybernetischen Kapitalismus und seine Alternativen“ arbeitet. Zuletzt ist von ihm das Buch „Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus“, Heidelberg 2016, erschienen.
Dr. Ludger Eversmann ist Wirtschaftsinformatiker und arbeitet seit langem über die mögliche Veränderung der Gesellschaft und des Wirtschaftens durch die digitale Medien. Zuletzt erschienen: „Wirtschaftsinformatik der ‚langen Frist: Perspektiven für Menschen, Automaten und Arbeit in einer lebensdienlichen Ökonomie“, Heidelberg 2017. Bei Telepolis ist als eBook erschienen: „Projekt Post-Kapitalismus. Blueprint für die nächste Gesellschaft“.
Digitaler Kapitalismus oder digitaler Kommunismus?
Mit Internet, Industrie 4.0. Künstlicher Intelligenz, Robotik, Bíg Data etc. stehen massive wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen vor uns, die manchen Angst machen. Aber es gäbe vielleicht auch die Möglichkeit, den kapitalistischen Markt und die Massenproduktion in eine rationale, flexible und demokratisch kontrollierte Planwirtschaft zu überführen, um einen Echtzeitabgleich zwischen Nachfrage und personalisiertem Angebot zu entwickeln, also um Bedürfnisse und Produktion in selbstorganisierten und dezentralen kybernetischen Rückkopplungsschleifen zu verbinden.
Was Konzerne werk- und länderübergreifend als optimierte Produktionsplanung mit Computersystemen über die gesamte Wertschöpfungskette anstreben, könnte auch unter der Bedingung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Netze für an die Bedürfnisse der Menschen gekoppelte Wirtschaftssysteme möglich sein. Das könnte eine gerechtere Gesellschaft begründen, in der die zunehmende Automatisierung nicht mehr zum Auseinanderdriften von Arm und Reich und zu einer wachsenden Schicht von Überflüssigen führt.
Die sozialistische Planwirtschaft ist grandios aus vielerlei Gründen gescheitert, vielleicht auch daran, weil die technischen Grundlagen für eine wirkliche bedarfsorientierte und rationale Planwirtschaft, wie sie intern auch jedes kapitalistische Unternehmen handhabt, nicht gegeben waren. Der Historiker Gerd Koenen schrieb in seinem unlängst erschienenen Buch „Die Farbe Rot“ über die Wirtschaft in der Sowjetunion:
„Die Planung, das Kernstück sozialistischen Wirtschaftens, war bei näherer Betrachtung nicht nur eine Fiktion, sondern wurde zu einem Instrument der universellen Desinformation. Irreal war bereits die Vorstellung, die Produktionsprozesse von Millionen von Einzelprodukten zentral planen und steuern zu können. Tatsächlich waren die legendären Fünfjahrespläne ohne jede bindende Wirkung, sie trugen rein propagandistischen Charakter … Dagegen fielen die operativen Pläne (Jahres-, Quartals- und <Monatspläne für die einzelnen Branchen, Regionen oder Kombinate unter das alles umspannende Staatsgeheimnis … Die Zahlen konnten nur die Produzenten liefern, in der Rewgel waren das eher Schätzungen als konkrete Festlegungen. Faktisch konnten die operativen Pläne daher nicht vorausschauend, sondern nur nachträglich aufgestellt und verabschiedet werden.“ (S. 985)
Nach dieser Beschreibung hängt alles an der Verfügbarkeit von gewaltigen Datenmengen (Big Data), die zur Steuerung der Prozesse erhoben, zusammengeführt und ausgewertet werden müssen. Heute gibt es zunehmend über die Vernetzung von allem und jedem, über das Internet der Dinge, intelligente Systeme und Industrie 4.0 die Möglichkeit, in Echtzeit und durch Vorgabe von Parametern in dezentraler und rückgekoppelter Selbstorganisation, also automatisiert, Wirtschafts- und Produktionsabläufe zu organisieren.
Zwar werden solche Ansätze wie bei der Industrie 4.0 erst einmal für die Wertschöpfungsketten einzelner Betriebe (smart factory) geplant, um etwa erst zu produzieren, wenn ein individualisiertes Produkt bestellt wurde, aber man will mit der Technik ja auch ganze Städte (smart cities) steuern und optimieren. Warum also nicht auch Märkte, die dann nicht blind für einen Massenmarkt produzieren und dabei Ressourcen verschwenden?
Das Projekt Cybersyn und die Chicaco Boys
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass noch in der Frühgeschichte des Computers und vor der Existenz des Internet Vorstellungen einer Managementkybernetik zur Steuerung einer automatisierten Fabrik in den 1950er Jahren entwickelt wurden. Der Brite Anthony Stafford Beer gilt als Begründer der Managementkybernetik und hat schließlich 1971 während der Regierung von Salvador Allende mit dem Philosophen Fernando Flores das Cybersyn-Projekt entwickelt. Damit sollte für staatliche Betriebe eine Planwirtschaft auf der Grundlage des Computerprogramms Cyberstride aufgebaut werden, die Prozesse in Echtzeit durch Computer und ein Fernschreiber-Netzwerk steuert und von einer Kommandozentrale kontrolliert wird.
Das für heutige Bedingungen primitive System war noch im Aufbau, als Allende durch den vom Westen gestützten Militärputsch beiseite geschafft wurde. Mit brutaler Gewalt wurden alle sozialistischen Oppositionellen verfolgt, inhaftiert, gefoltert und mitunter exekutiert. Auch Cybersyn wurde natürlich begraben, der Kontrollraum zerstört.
Anstelle der experimentellen, auf damals moderner Technik gestützten Planwirtschaft kamen dann die von Friedrich August von Hayek und Milton Friedman inspirierten Chicago Boys und wollten Chile zu einem kapitalistischen, neoliberalen Wunderland machen. Im Nachhinein könnte man vielleicht sagen, dass das Projekt Cybersyn, das die im Rahmen der sozialistischen Politik mit Verstaatlichungen von Großunternehmen und der Enteignung von Großgrundbesitzern entstandenen Wirtschaftsprobleme lösen sollte, dem kapitalistischen Westen, allen voran der USA, zu gefährlich erschien und man daher lieber schnell die „freie Marktwirtschaft“ mit der Hilfe einer repressiven Militärdiktatur einführte.
Es kamen die üblichen Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen, Senkung der Steuern oder Privatisierung der Bildung und des Gesundheitssystems auf radikale Weise zur Geltung. Folge war eine wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen. Anfang der 1980er Jahre geriet Chile jedoch nach anfänglichen Erfolgen in eine schwere Rezession. Das Experiment gilt als gescheitert, die Folgen sind bis heute zu spüren.
Die Gruppe Prismen interveniert mit Fakten, Zahlen und Schabernack. Durch die Veranstaltung führen Peter Mühlbauer, Florian Rötzer und Thomas Pany, Redaktion Telepolis, sowie Bulgan Molor-Erdene, Leon Pfannenmüller und Lion Bischof, Prismen.
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